BMCR 2000.10.03

Claudians Praefationes. Bedingungen, Beschreibungen und Wirkungen einer poetischen Kleinform. BzA 130

, Claudians praefationes : Bedingungen, Beschreibungen und Wirkungen einer poetischen Kleinform. Beiträge zur Altertumskunde ; Bd. 130. Stuttgart und Leipzig: Teubner, 1999. 263 pages ; 24 cm.. ISBN 3519076799.

Cameron resümiert in seinem Standardwerk über Claudian: “In the present century Claudian is hardly read even by classical scholars.”1 Nun hat sich jedoch in den letzten drei Dezennien die philologische Arbeit zu dem alexandrinischen Poeten intensiviert und neu orientiert: Mit Halls editio der Claudiani carmina liegt seit 1985 ein substantieller Beitrag zur Claudianforschung vor, von dem aus Kommentare bzw. Uebersetzungen zu einzelnen carmina verfasst wurden. In zunehmendem Mass konzentriert sich die Claudianphilologie auf die poetische Konzeption, die Kompositionsprinzipien und die narrativen Strukturen im Werk eines der letzten grossen römischen Dichter. In diese Richtung ist auch die überarbeitete Dissertation von F(elgentreu) einzuordnen, der die Praefationes als dichterische Kleinform ernst nimmt und ihre Gesetzmässigkeiten ermitteln möchte. Claudian tritt uns als Künstler entgegen, der zu talentiert ist, um in den Lemmata von Literaturlexika oder historischen Fragmentsammlungen begraben zu werden. Die von F. formulierte Aufgabe, ein Bild von Aesthetik und gesellschaftlicher Funktion der Praefationes zu zeichnen, wurde nach Meinung des Rez. hervorragend erfüllt.

Das Buch setzt mit gattungstheoretischen und terminologischen Erörterungen über praefatorische Texte ein (S. 13-37), leitet dann mit einer Skizze über die Entwicklung der Praefatio vor Claudian (S. 39-57) zum Hauptteil, der Detailanalyse von 12 praefationes, über (S. 59-186). Der Ertrag dieser Beschreibung wird danach in einer Liste mit den wichtigsten Topoi kategorisiert (S. 187-209). Unter dem Paradigma von Tradition und Originalität erfahren Claudians Praefationes eine abschliessende Würdigung im Hinblick auf ihre öffentliche Funktion (S. 211-228).

F. gehört zu jenen klassischen Philologen, die Denkansätze moderner Literaturwissenschaft und Semiotik heranziehen, um einen Fortschritt beim Verständnis antiker Literatur zu erzielen. Was sind, so fragt F. angesichts der verschiedenen Exordialsysteme, die Wesenszüge von Praefatio und Prooemium, die Claudian auch nebeneinander verwendet (c.3; c. 26; rapt. Pros. 1)? Entgegen antikem Sprachgebrauch definiert F. die Praefatio als externe Vorrede zu äusseren und biographischen Themen, während das Prooemium als integraler Einführungsteil zum Haupttext selbst gehöre. Wenn es also allgemeine strukturelle bzw. intertextuelle Gesetzmässigkeiten für antiken Praefationes gibt, kann nach F. diese Literatur als Gattung begriffen werden. Im Rahmen einer ausführlichen Erörterung über den ontologischen Status von “literarischer Gattung” schliesst sich F. jenen Erklärungsmodellen an, die Gattung unter pragmatischer Perspektive mit dem Erwartungshorizont des Publikums zusammenbringen. Demnach zeigt sich der kommunikative Charakter der Gattung an der Funktion eines Literaturwerks: Wer beispielsweise einen Kriminalroman schreiben will und bewusst Spannung vermeidet, verstösst einmal gegen die Vorgeschichte der Gattung “Kriminalroman” aber auch gegen den literarischen Kodex eben jener Gemeinschaft, der sowohl der gescheiterte Kriminalautor als auch seine vergrämte Leserschaft angehören. Gattungsgeschichte und die Konvention der Kommunikation gehören zusammen. Was nun die Interpretation betrifft, will F. klarstellen, dass eine rein kommunikative, somit ahistorische Gattungsdefinition prinzipiell keine neuen Interpretationsperspektiven eröffnet, zumal der Autor, so kreativ und genial er auch sein mag, zur Bewältigung einer kommunikativen Aufgabe von seiner Leseerfahrung ausgehen musste und damit von einem vorgegebenen praefatorischen Material abhängig war (S. 33). Da F. aus seinen begriffstheoretischen Überlegungen auch praktisch-exegetische Konsequenzen ziehen möchte, sucht er im dualen Verhältnis von a) kommunikativem Rahmen (Sender-Empfänger-Funktion) und b) künstlerischer, historisch beeinflusster “Generizität” (Inhalt-Form-Metrik-Stilistik) jenen Faktor, der dem freien Spiel künstlerischen Schaffens unterliegt und allein produktionsästhetisch wie interpretatorisch relevant ist. Dieses Gattungsmuster findet F. ausschliesslich im Fall b). So ziele z. B. der Begriff “Drama” allein auf den kommunikativen Rahmen — speziell auf die mimetische Darstellung einer Handlung in verschiedenen Epochen und Kulturen — sei aber für die Interpretation eines konkreten Textes unfruchtbar, da er nichts über dessen literarhistorische Vernetzung aussage (S. 34). Nach F. weisen nun die antiken Vorworte auf der Realisierungsebene solche kohärenten Gattungsmuster auf, so dass von einer Gattung gesprochen werden könne, zu der auch die Praefationes Claudians zählten.

Vieles an diesen theoretischen Vorüberlegungen ist klug und anregend argumentiert. Mit dem Gattungsbegriff wird die Praefatio Claudians stimmig als eigenständige Textsorte abgesichert und eine Entwicklung aus dem epischen Prooemium zurückgewiesen. Ein grundlegender Einwand bezieht sich auf die unausgesprochene und F. vielleicht nicht bewusste Prämisse, dass ein richtiges Textverstehen prinzipiell möglich ist, wenn erst die entsprechende Gattung richtig bestimmt wurde. In seiner Exegese versucht F. entsprechend der polyphonen und polysemischen Natur von Texten, alle Konnotationen, die innerhalb der Gattung “Praefatio” mit den heutigen philologischen Instrumentarien zu rekonstruieren sind, zu beschreiben, um dann “die” Bedeutung zu erkennen. Doch ist das Vorwissen des Claudianhörers des Jahres 400 n. Chr. zwangsläufig ein anderes, als das eines neuzeitlichen Literaturwissenschaftlers. Diese Divergenz bedingt, dass ein und derselbe Text für zwei Personen zwei Bedeutungen annehmen kann. Ein sogenannter Parallelbeleg sollte erst dann zur Textinterpretation herangezogen werden, wenn der Nachweis gelungen ist, dass auch für den zeitgenössischen Rezipienten diese Stelle Teil seines literarischen Kosmos war. Doch in der Mehrzahl der Fälle hält sich F. an den literarischen Code, der den Typus der Praefatio bestimmte, um dann nach der Intention Claudians gegenüber seinem ideal vorgestellten Modelleser zu fragen. Diese Methode entspricht dem Standard moderner Textsemiotik und führt vielfach zu einem Interpretationsfortschritt.

Aus einer Fülle von guten Einzelinterpretationen seien nun exemplarisch zwei Belege herausgegriffen. In der Paraefatio zum Panegyricus auf das 3. Konsulat des Honorius erzählt Claudian das Gleichnis vom Adler, der seine beiden Küken der Sonnenprobe aussetzt und das Junge aus dem Nest wirft, das den Anblick der Sonne nicht erträgt, während das andere, das seinen Blick nicht abwendet, zum Waffenträger Iuppiters aufgezogen wird (c. 6 praef. 1-14). Neben der primären Aussage — Claudian artikuliert metaphorisch sein Selbstbewusstsein als Fürst der Poeten und Poet der Fürsten, nachdem er seine Probe bestanden und zum ersten Mal vor dem Kaiser auftreten darf — öffnet F. mit Hilfe der in Claudians Umfeld nachweisbaren Bearbeitungen des Adlergleichnisses (etwa Ambrosius’ Hexaemeron) eine zweite, nur latent angelegte Aussage: Das schwächere Adlerjunge konnte vom Mailänder Hofpublikum auch mit Arcadius, dem Imperator des Ostens, identifiziert werden, dem Honorius, der sonnenerprobte Adler, gegenübersteht (S. 78-83).

In c. 25 praef. 9 liest F.: adnuit hunc princeps titulum: POSCENTE SENATV. Claudian nimmt hier auf die Inschrift am Sockel der ihm gewidmeten Ehrensäule Bezug, indem er in kurzer direkter Rede den Antrag des Senats zitiert. Jetzt gewinnt das hic als Markierung für eine wörtliche Rede Sinn, der Poet bedankt sich elegant für das Engagement des Senats, ihm eine Ehrung zukommen zu lassen. Durch intertextuelle Referenzen über die Wortfelder “Antrag”-“Urteil”-“Liebe (sc. des Senats)” knüpft Claudian Verbindungen zur vierten Rede des Symmachus von 376 n. Chr. und signalisiert dem stilichokritischen römischen Senat den Wunsch des Hofes nach einem Einverständnis mit der Kurie (S. 135-138).

Den vielen Positiva stehen wenige Admonenda gegenüber. Die Stilichoapostrophe in der Praefatio der 2. Rufininvektive (c. 4, 13-16) kann aufgrund fehlender wörtlicher Anklänge wohl nicht direkt auf Hor. c. 3, 4, 37-40 zurückgeführt werden. Dagegen harrt in dieser Praefatio die reiche mythologische Motivik (kein Barbar trinkt aus der kastalischen Quelle, Alpheus ist vom Barbarenblut rot gefärbt, so dass Arethusa von dem Triumph über die Goten weiss) genauerer Erläuterung. Warum werden diese Bilder genau an dieser Stelle mit eben diesen Begriffen evoziert, welche Rolle spielten diese Mythen in der Leserschaft des 5. Jahrhunderts n. Chr.? Hier wäre es möglich gewesen, die auktoriale Generizitaet Claudians in seiner Realisierung gegebener Erzählmuster zu beschreiben und damit den Anspruch aus dem theoretischen Hauptteil des Buches einzulösen. Was die Praefationes zu rapt. Pros. 1 und 2 angeht, hat F. den Kommentar von Potz zu diesem grössten mythologischen Gedicht Claudians übersehen.2 F. deutet zwar poetologisch ansprechend Claudians Selbststilisierung als Argonautenfahrer als Metapher für die grosse Form epischen Dichtens, das er nun ebenso kuehn in Angriff nimmt wie Jason seine Seefahrt (ausus: v. 3; audacia: v. 9; S. 166). Richtig ist da auch der Hinweis auf die Vieldeutigkeit der 1. Praefatio, doch hätte man gerade deswegen der von Potz vorgebrachten Hypothese, das audacia — Motiv beziehe sich auf die Intention Claudians, mit seinem raptus Proserpinae aus nichtchristlicher Sicht eine Antwort auf die Frage unde datae populis fruges (rapt. Pros. 1, 30) zu geben, nachgehen können. Während F. nicht zu erkennen vermag, inwiefern das Epos über Proserpina mit dem Stadtpräfekten Florentinus, dem es gewidmet ist, verbunden ist, worauf weiters die Gleichsetzung von Florentinus und Hercules zurückgeht (S. 179), führt der Ansatz von Potz doch weiter: Nach seiner Lesart steht rapt. Pros. in Beziehung zu den eleusinischen Mysterien (templum Cecropium: 1, 10; sanctae fasces 1, 11; angues Triptolemi: 1, 12; Jacchus 1, 16), Claudian propagiert hier einen Götterglauben, der Ober- und Unterwelt aussöhnt, Nutzniesser dieser Harmonie ist die Menschheit durch die Göttergabe des Getreides, wie per analogiam auch Florentinus die Getreideversorgung Roms sicherte.3 Diese Theorie vom eleusinischen Substrat könnte nach Ansicht des Rezensenten auch den Herculesvergleich erhellen: Nach Apollodor 2, 5, 12 bereitete sich Hercules in den Mysterien von Eleusis auf seine Fahrt in den Tartaros vor, nach Diod. Sicul. 4, 14 schuf Demeter für Hercules die Kleineren Mysterien (vgl. auch Lykophron 1328 und Plut. Theseus 26). Weiteres ad rem ist künftiger Forschung vorbehalten, doch geht F. mit seiner Ansicht “der Vergleich seiner Leistungen mit denen des Hercules stellt nur ein allgemeines Kompliment dar” (S. 179) am Wesentlichen vorbei.

Im letzten Drittel seines Buches zieht F. den systematischen Ertrag aus seinen Detailinterpretationen. Die von Claudian entwickelte Praefationstopik kreist lediglich um zwei zentrale Motive, das des Dichters in der Situation des Vortrags und den Topos des siegreichen Kampfes (S. 194-203). Claudian gewinnt Konturen als Schöpfer eines einheitlichen, allegorisch — gleichnishaften Praefationsstils, der formal mit der Wahl des elegischen Distichons ueber den Mittler Ausonius an das Epigramm des 4. Jh.s anknüpft und inhaltlich in der Tradition der προλαλιά der Rhetorik steht (S. 213 f.). Claudians Praefationes blieben mit ihrem ästhetisch-pragmatischen Anspruch ohne kreativen Nachfolger. Der Christ Prudentius geht dem claudianischen Praefationstyp bewusst aus dem Weg. Der einzig echte Epigone, Sidonius Apollinaris, integriert die Praefatio, die nicht mehr für eine reale Aufführung komponiert wurde, in den edierten Haupttext: Claudians Praefationes waren im zerfallenden Westreich mangels eines adäquaten Publikums heimatlos geworden (S. 227). F.s Buch erweckt immerhin die Hoffnung, dass sie im Bewussstein der Philologen einen neuen Wohnsitz erlangen.

Notes

1. A. Cameron, Claudian. Poetry and Propaganda at the Court of Honorius, Oxford 1970, S. 451.

2. E. Potz, Claudian. Kommentar zu De raptu Proserpinae Buch I, Graz 1985.

3. Potz S. 25 f.