BMCR 2006.03.45

Christliche Identität und Assimilation in der Spätantike. Probleme des Christseins in der Reflexion der Zeitgenossen. Studien zur Alten Geschichte, 3

, Christliche Identität und Assimilation in der Spätantike : Probleme des Christseins in der Reflexion der Zeitgenossen. Studien zur alten Geschichte ; Bd. 3. Frankfurt am Main: Verlag Antike, 2005. 432 pages ; 23 cm.. ISBN 3938032065. €54.90.

Seit der Veröffentlichung von Edward Gibbons Meilenstein für die Erforschung des Untergangs des römischen Reichs und der Ausbreitung des Christentums in den Jahren 1776 bis 17881 wandten sich zahlreiche Autoren den Fragen nach den Ursachen und Bedingungen für das Erstarken des Christentums zu. Dabei wurden die Perspektiven immer spezieller und auf ein Phänomen oder wenige konzentriert.2 Ihre revidierte Habilitationsschrift an der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim widmet Karen Piepenbrink einem zentralen Problem: Mit der konstantinischen Wende und der Förderung des Christentums durch die römischen Kaiser erhielt das Christentum so erheblichen Zuspruch, dass vielfach ursprünglich Christliches mit Paganem verschmelzen musste. Die drängende Frage, die sich stellt, lautet: Was war dann überhaupt noch christlich, was noch oder bereits nichtchristlich (11, 13-22)? Der Beantwortung dieser Frage zwischen den Polen christliche Identität und Assimilation wendet sich Piepenbrink zu. Damit gelingt es ihr, erfolgreich eine Lücke in der Erforschung des frühen Christentums und seiner Umwelt zu schliessen. Stil und Inhalt der Darlegungen verdeutlichen, dass sich Piepenbrinks Monographie in erster Linie an Spezialisten in den Bereich römische Geschichte, alte Kirchengeschichte und Patristik wendet, da auch profundes Vorwissen und Problembewusstsein vorausgesetzt werden. Allerdings vermag sicherlich auch die in diesen Gebieten nur wenig erfahrene Leserschaft den Band nach der Lektüre als Gewinn bringend beurteilen.

Das vierte und fünfte Jahrhundert bringen für das Christentum völlig neue Bedingungen mit sich, so dass sich in den Texten der christlichen Schriftsteller vermehrt Tendenzen zeigen, die in den ersten drei Jahrhunderten kaum anzutreffen waren. Mit einem Mal werden Themen zentral, die auch auf den inneren Zustand der Kirche wie auch auf die Besorgnis der Kirchenväter schliessen lassen. Bleibt die christliche Kirche jene Glaubensgemeinschaft, die durch Askese, Nächstenliebe und Zusammenhalt sowie durch klare rituelle Glaubensvollzüge Nichtchristen faszinierte oder auch abstiess? Schnell wird klar, dass der Prozess einer Vermischung von Christlichem und Nichtchristlichem kaum aufzuhalten sein wird. Umso heftiger fallen dann die Appelle aus, sich abzugrenzen von paganen Tendenzen und Laxheit, das ursprünglich Christliche unverfälscht zu bewahren. Gleichzeitig lassen es die christlichen Schriftsteller nicht bei Appellen bewenden, lösen einen innerchristlichen Diskussionsprozess aus, der nach der konstantinischen Wende nicht innerchristlich oder in anderen Worten nur innerhalb einer institutionellen Glaubensgemeinschaft bleiben konnte, sondern auch staatliche Institutionen und Repräsentanten betreffen musste. Im Zuge ihrer Argumentationen kommen die Schriftsteller schliesslich nicht umher näher zu bestimmen, was christlich denn überhaupt bedeutet, anders formuliert, was letztlich die christliche Identität ausmacht. Nachdem Piepenbrink dieses Untersuchungsfeld methodisch geschickt und mit grossem Problembewusstsein in ihrer Einleitung (12-22) umschrieben hat, wendet sie sich in fünf Hauptkapiteln, die ihrerseits detailliert in viele Unterabschnitte untergliedert sind, den für ihr Anliegen massgeblichen Schwerpunkten zu. Natürlich ist die Datenlage dermassen umfangreich und unübersichtlich,3 dass Piepenbrink kaum eine andere Möglichkeit bleibt, als ihre Datenbasis zeitlich wie auch geographisch zu beschränken. Entsprechend erstreckt sich ihr Augenmerk auf “die Phase von der konstantinischen Zeit bis zum Tode des Augustinus” (21). Das kann sie damit stichhaltig begründen, dass wichtige Erfahrungen nunmehr konstant blieben (Ende der Verfolgungen, Ausbreitung des Christentums und Auseinandersetzung mit paganer Religion). Die Konzentration auf “den westlichen Reichsteil” (21) und damit die lateinische Literatur des frühen Christentums, rechtfertigt sie durch die grundsätzlichen Unterschiede zwischen den Reichshälften. Generell allerdings wäre gerade auch der Osten ein wichtiger, wohl noch vielfältiger und inhomogenerer Untersuchungsgegenstand gewesen. Doch gerade das stützt wiederum Piepenbrinks Wahl, zumal es ihr nicht um die Analyse der Haltung und Einstellung einzelner christlicher Autoren geht, sondern ihr Hauptaugenmerk vielmehr der “Thematisierung grundsätzlicher Probleme durch die Beteiligten und ihren argumentativen Umgang mit ihnen” (21) gilt. “Im Unterschied zu den bisherigen Studien” sucht sie, “die Situation ‘durchschnittlicher’ Christen” zu beleuchten (20). Das meint in erster Linie die Beleuchtung und Erschliessung der innerhalb des “innerchristlichen Diskurses” angesprochenen Lebensbereiche, die sich konkret auf das Alltagsleben ebenjener ‘durchschnittlichen’ Christen beziehen. Speziell verfolgt Piepenbrink dabei folgende Fragestellungen (22): (1) Gibt es eine “Divergenz von sozialem Handeln und Reflexionen” mit Assimilationsprozessen auf der Handlungseben und “lediglich asketisch motivierte[n] Aussagen” auf der Reflexionsebene? Gibt es sogar Überlegungen, die “sich der Frage nach christlicher Identität und Assimilation aus nichtasketischer Perspektive stellen”? (2) Wenn in (1) beide Fragen positiv beantwortet werden können, dann ist zu fragen: Welche konkreten Probleme der Christen werden erwähnt und/oder behandelt, welche thematisiert und mit Lösungsansätzen bedacht? Gerade dieses Einleitungskapitel stellt ein Höchstmass an Problembewusstsein und methodischer Kompetenz dar: In kritischer Auseinandersetzung mit den signifikanten bisherigen Ansätzen in diesem Bereich gelingt Piepenbrink eine exakte, eigenständige Positionierung.

Auf breiter Datenbasis wendet sie sich anschliessend in fünf Hauptkapiteln konsequent der Suche nach Antworten auf ihre Fragen zu. Dass dabei im Korpus der einbezogenen Literatur Ambrosius, Hieronymus und Augustinus (vgl. Quellenverzeichnis, 398-403) besonders häufig anzutreffen sind, überrascht angesichts der Überlieferungssituation und des Umfangs des (erhaltenen) Werks des jeweiligen Kirchenvaters nicht. Das herangezogene Textkorpus bleibt auch so beeindruckend umfangreich und vielfältig, so dass die zu erwartenden Ergebnisse methodologisch auf einer sehr breiten Basis zustande kommen.

Die Hauptkapitel selbst sind so detailreich und stark untergliedert, dass sich in einer noch lesbaren Rezension eine exakte Gesamtanalyse verbietet. Deshalb erfolgt die Darstellung und Würdigung des Bandes hier in Schwerpunkten:

Die Untergliederung mag auf den ersten Blick sogar wie eine Zergliederung erscheinen, finden sich doch bis zu zwölf Unterpunkte (z.B. 5.12) und manche von ihnen bis hin zur vierten Ebene (z.B. 2.8.10.3). Angesichts der kompendiumartigen Formulierung der Überschriften (z.B. zu ‘5 Pagane Religionen’: ‘Das Problem der Vermeidung der idolatria‘, ‘Gott und Dämonen’, ‘Theater und Spiele’, ‘Astrologie’, ‘Der Umgang mit Wundern’, ‘Opfer’ etc.) allerdings erweist sich diese Strukturierung gerade eben als Vorteil: So wird eine rasche Orientierung möglich, bleibt die Darstellung stets systematisch, was sich in den jeweiligen Zusammenfassungen am Ende der Hauptkapitel widerspiegelt, und kann — auch wenn Piepenbrinks Arbeit unbedingt als Ganzes betrachtet werden und Verwendung finden sollte — sogar als Nachschlagewerk zu spezifischen Lebensbereichen des frühen Christentums auf Basis der patristischen Literatur herangezogen werden.

Das erste Hauptkapitel, damit das zweite des Buchs, beleuchtet geradezu hinführend die ‘Hinwendung zum Christentum’ (23-124). Hier geht es noch einmal um die Abgrenzung von bisherigen Forschungen und die Positionierung des eigenen Standpunkts, ist doch im Besonderen die conversio immer wieder kontrovers diskutiert worden. Dabei überrascht es dann doch, dass die christlichen Schriftsteller von Kompromissen und Zugeständnissen schreiben, radikale asketische Forderungen nicht als alleingültig in den Mittelpunkt stellen (119-124). Der kleinste gemeinsame Nenner kann hier sogar sein, “dass es für einen Christen durchaus genügen kann zu glauben” (124).

Organisch schliesst sich das nächste Kapitel, ‘Zugehörigkeit zur Kirche: ‘Gute’ und ‘schlechte’ Christen’ (125-161) an, aus dem wiederum spezifiziert das dritte Hauptkapitel, damit das vierte des Buchs, hervorgeht, ‘Zugehörigkeit zu verschiedenen Gemeinschaften: Bezugs- und Normenkonflikte’ (162-282). Darin ist das Interesse vor allem auf die Begriffe Perfektion und Begierden, perfectio und voluptates konzentriert. Natürlich spielen hier auch Tugenden und Sünden, virtutes und peccata eine Rolle, bevor es um ‘Christliche und himmlische Werte — himmlische und irdische Güter’ (190-203) geht. Gerade diese Darlegungen können sogar als Impetus für aktuelle Diskussionen im politischen wie philosophischen Bereich herangezogen werden. Einen breiten Raum nimmt dann auch beispielsweise der Bereich ‘Ehe und Familie’ (206-236) ein. In diesen Berührungsbereichen zwischen traditionellen Haltungen und dem Christentum stehen sich beide keineswegs feindlich gegenüber, vielmehr verweisen die christlichen Schriftsteller immer wieder auf Verbindungslinien zwischen christlichen und nicht-christlichen Vorstellungen und nehmen mitunter auch eine vermittelnde Haltung in strittigen Fragen ein (275-282).

Als nächstes geht es um die ‘Pagane Religion’ (283-339), ein zentrales Berührungsfeld zwischen Christentum und traditioneller religiöser Umwelt. Die einzelnen Felder sind auch hier einsichtig und klar. Grundsätzlich wird das Religiöse, d.h. die Religion der Nichtchristen, von den christlichen Schriftstellern nicht abgelehnt bzw. systematisch analysiert, sondern ihnen ist eine konkrete Auseinandersetzung mit speziellen religiösen Praktiken zu eigen (334-339), die sich partiell nicht von der Haltung vor dem vierten Jahrhundert unterscheidet (vgl. 286-292 die Diskussion um idolatria 4). Hieraus ergibt sich wiederum organisch die Blickrichtung auf die Haltung gegenüber gebildeten Kreisen im anschliessenden Kapitel ‘Bildung, Philosophie und Rhetorik’ (340-391), also nochmals eine Spezifizierung des Blickwinkels wie schon bei vorherigen Kapiteln. Berücksichtigt man manch kritische Haltung in der frühchristlichen Literatur gegenüber antiker Bildung und Philosophie (so etwa in den Pseudo-Klementinen) und umgekehrt manche Einstellung jener, die mit der klassischen Philosophie ebenso vertraut waren wie mit den Bibeltexten, gegenüber den ihnen dann wenig anspruchsvoll anmutenden biblischen Texten (343), dann erstaunt nicht, dass es in diesem Bereich Reibungspunkte gab. Doch waren sich christliche Schriftsteller durchaus auch der Ähnlichkeit gewisser philosophischer Richtungen mit bestimmten biblischen Haltungen bewusst, was sie analog und adäquat auch für ihre Zwecke nutzen konnten (vgl. v.a. Augustinus und seinen biographischen Hintergrund). Deshalb wirken Bildung, Philosophie und Rhetorik nicht als Negativfolie sondern vielmehr als nützliche Instrumente bei der Überzeugungsarbeit, insbesondere dann wenn Werte und ethische Konzepte zur Disposition stehen (385-391).

Abschliessend fasst Piepenbrink ihre Ergebnisse nochmals kondensiert zusammen (392-397). Ihre sorgfältige Arbeit ergibt, dass sich bei den christlichen Schriftstellern des vierten und fünften Jahrhunderts weniger rigoristisch asketische Forderungen als vielmehr vermittelnde Diskussionen und Vorgaben finden. Neben einem immer deutlicher werdenden Bild christlicher Identität bei den Autoren erhält vor allem auch die Maxime der Assimilation Kontur, gestützt durch die konsequente Fortführung und ein Aufrechterhalten christlicher Werte.

Ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis (398-429), das die umgehende Identifizierung der knapp und somit leserfreundlich gehaltenen Fussnoten ermöglicht, sowie ein recht kurzes Register wichtiger Begriffe (430-432) erleichtern der Leserschaft die Benutzung des Bandes für eigene Studienzwecke wie auch als Grundlage für weitere Forschungszwecke.

Der Wert von Karen Piepenbrinks sorgfältiger und in ihren Schlüssen stets vorsichtig argumentierender Arbeit liegt insbesondere darin, endlich eine nichtasketische Perspektive auf das Wesen des Christentums nach der konstantinischen Wende entwickelt zu haben und dadurch einen innovativ neuen Blick auf das Selbstverständnis des Christentums des vierten und fünften Jahrhunderts und gleichzeitig die grundlegende Haltung gegenüber der drohenden Säkularisierung zu ermöglichen. Es bleibt zu hoffen und wird vielmehr erwartet, dass ihre Ergebnisse einerseits von der Forschung als essentielle Diskussionsgrundlagen aufgenommen, andererseits durch eine Betrachtung der östlichen Reichshälfte — die sich viel inhomogener und diffuser darstellt — Erweiterung finden werden.

Notes

1. Edward Gibbon, The History of the Decline and Fall of the Roman Empire. 7 vols. Ed. D. Womersley; London: Methuen, 1776-1788.

2. So zuletzt die verschiedenen, meist methodisch ausgerichteten Symposiumsbeiträge in: William V. Harris, ed., The Spread of Christianity in the first Four Centuries, Columbia Studies in the Classical Tradition 27; Leiden: Brill, 2005.

3. Dies bezieht sich auf den nur langsam zu beseitigenden Mangel an kritischen Ausgaben von Kirchenvätertexten. Nach wie vor verbleibt für bestimmte Autoren und Texte nur der Rückgriff auf J.-P. Mignes Mammutwerke Patrologia graeca (162 Bde.) und Patrologia latina (217 Bde.), sofern diese überhaupt darin angemessen ediert sind.

4. Vgl. zuletzt Johannes Woyke, Götter, ‘Götzen’, Götterbilder. Aspekte einer paulinischen’Theologie der Religionen’. Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft 132; Berlin: Walter de Gruyter, 2005.