BMCR 2006.07.59

Schriftkultur. Eine Geschichte des Schreibens und Lesens

, Schriftkultur : eine Geschichte des Schreibens und Lesens. Munich: Primus, 2006. 349 pages : illustrations ; 23 cm. ISBN 3896785648. €39.40.

Überhaupt eine “Geschichte des Schreibens und Lesens” verfassen zu wollen, erscheint vermessen angesichts der sich stellenden methodischen Probleme sowie der Fülle an Informationen und Phänomenen. Würde man sich nicht dabei in Details verlieren und den Gesamtzusammenhang aus dem Blick verlieren? Wie soll so etwas funktionieren, noch dazu in Form einer einbändigen Veröffentlichung? Aller dieser prinzipiellen Anfragen vor der Lektüre des Bandes zum Trotz: Es ist Peter Stein (S.), der bis zu seiner Emeritierung Professor für Sprache und Kommunikation in den Kulturwissenschaften an der Universität Lüneburg war, nicht nur vorzüglich gelungen, einen profunden Überblick über die Geschichte des Lesens und Schreibens zu geben, sondern vielmehr verflechtet er Sachinformationen stets mit kritischen An- und Rückfragen, bringt methodische Reflektionen ein und spannt den Bogen in die Gegenwart. S. gibt damit einen Überblick, der von den ersten greifbaren Formen des Schriftgebrauchs bis hin zur Problematik einer Schrift- und Lesekultur im multi- und massenmedialen Zeitalter reicht und der noch dazu ein wirkliches Lesevergnügen bereitet.

Die dreizehn Kapitel, die sich meist chronologisch aneinanderreihen, bieten so viele Detailinformationen, dass eine eingehende kritische Diskussion und Würdigung aller Einzelphänomene in einer Rezension nicht zu bewerkstelligen sind. Das Augenmerk gilt folglich einer Übersicht über Anlage und Inhalt des Bandes sowie der Behandlung von ausgewählten Fragestellungen. Die ausführlichste Besprechung widerfährt aber dem ersten Kapitel, dessen methodische Aspekte für die Lektüre und Einschätzung der anderen zwölf Kapiteln essentiell sind. Der Band selbst ist so organisiert, dass jedem Kapitel Endnoten mit den zitierten Titeln in Kurzform angefügt sind, deren Auflösung dann mit der kumulativen Bibliographie (321-40), aufgeteilt in Nachschlagewerke und Handbücher einerseits und Monographien, Sammelwerke und Aufsätze andererseits, möglich ist. Ein Indexteil mit Personen, Orte und Begriffe (341-9) erleichtert trotz Kürze die Orientierung.

Gerade im ersten Kapitel (“Orale Kultur, Schriftkultur, Medienkultur”, 9-28) wirft S. elementare Fragen auf, deren Klärung für die Einschätzung der nachfolgenden, auch geschichtlich orientierten Beschreibungen essentiell ist: Gibt es Kultur ohne Schriftsprachlichkeit? Führt Schriftsprachlichkeit zu einem höheren kulturellen Status? Welche Implikationen und Phasen der Schriftsprachlichkeit sind zu verzeichnen? Ist Schriftkultur auch Medienkultur? S. legt richtig dar, dass Kultur eben nicht mit Schrift einsetzt, sondern dass beispielsweise Laute, Gestik und Mimik ebenso Denken und Wissen repräsentieren. So ist “Schriftlosigkeit … kein Zustand von Analphabetisiertheit, d.h., sie ist kein Defizit” (11). Vielmehr ist primäre Oralität kulturstiftend, wodurch sich der lange Zustand der Schriftlosigkeit in der Menschheitsgeschichte erklärt. Zwangsläufig kommt dabei der Begriff Gedächtniskulturen für orale Kulturen zur Sprache, anders formuliert die mündliche Weitergabe von Wissen von Generation zu Generation. Natürlich ist dann Gedächtniskultur nicht textgetreu. Allerdings wurde noch bis in die 1970er Jahre hinein für selbstverständlich gehalten, dass “Schriftsprachlichkeit zu einem höheren kulturellen Status führe” (17). Diese Auffassung bedarf aber einer dringenden Differenzierung: Zwar ist es sehr wohl richtig, dass erst Literalität die Möglichkeiten des oralen Gedächtnisses etwa hinsichtlich Speicherkapazität oder Aufgabenerfüllung übersteigt. Dennoch sollte allenfalls von einer Qualitätsveränderung (und nicht einer Qualitätsverbesserung) gesprochen werden.1 Zugleich schafft Schrift Nachträglichkeit, was soviel heisst wie: Etwas, das aufgeschrieben wird, ist auch für später festgeschrieben. Hier kann sich S. zum wiederholten Mal auf Jan Assmann beziehen, für den Schrift sowohl Grenzen überschreitet als auch Grenzen zieht. Anschliessend skizziert S. verschiedene Entwürfe von “Phasen der Schriftkultur” (22-24), die zumeist rein historisch orientiert sind und orale Kommunikation als defizitär einstufen. So entwarf Marshall McLuhan 19622 ein dreiteiliges Phasenschema, das fortan grossen Einfluss hatte. Er setzte eine nicht-alphabetische Vorphase an, die von der Phase der alphabetisch-schriftlichen Kultur abgelöst wird. Letztere ist wiederum aufgeteilt in die Manuskriptkultur (bis zum 15. Jahrhundert) und die typographische Kultur (ab dem 16. Jahrhundert). Am Ende dieser “Gutenberg Galaxy” folgt dann das elektronische Zeitalter. Der Auffassung, dass der Alphabetschrift eine herausragende Bedeutung zuzugestehen sei, folgt S. aus guten Gründen nicht, da er sich sonst in erster Linie den Autoren und Texten einer Hochkultur widmen und die vielen Namenlosen unberücksichtigt lassen müsste, die an der Formung der Schriftkultur wesentlich beteiligt waren (26). Er räumt aber ein, dass er arbeitshypothetisch und strukturell an diesem Phasenschema nicht vorbei komme. Richtig und wichtig zugleich ist, dass S. am Ende seiner methodischen Überlegungen darauf verweist, dass sich “die schriftlichen Texte im Verlaufe ihrer Geschichte immer mit anderen Medien in einem Wechselzusammenhang befunden haben und ohne ihn schwerlich existiert hätten” (24), so dass Schriftliches auch früher immer mit anderen Medien, wie etwa Tafel- und Wandbild, Buchillustration oder darstellendes Spiel, einher ging. Analog verhält es sich auch mit der modernen Medienkultur. S. möchte nicht “einen Streit über die kulturelle Bedeutsamkeit der ‘alten’ Schriftkultur angesichts der modernen Medien” (25) herbeiführen. Denn für einen Paradigmenwechsel, genauer gesagt für ein Postulat eines stattgefundenen Paradigmenwechsels, ist es heute noch zu früh. Es muss sich erst noch erweisen, ob ein solcher überhaupt zu konstatieren sein wird. S. ist Recht zu geben: Es fehlen noch exakte und anerkannte Begriffsbestimmungen. Ausserdem sind etliche Aspekte noch nicht ausreichend erforscht.3

Natürlich dreht sich im zweiten dann chronologisch angelegten Kapitel alles um die Anfänge der Schrift und die Herausbildung erster Schriftsysteme. S. vertritt einen weiten Schriftbegriff, indem er auch Graphisches bespricht, das ohne Bindung an eine bestimmte Sprechsprache Informationen transportiert (so etwa Piktogramme, chemische Formeln oder Ziffern, aber auch Mythogramme bzw. Höhlenmalereien). Von Schrift wird normalerweise jedoch erst gesprochen, wenn Graphisches einem linearen Prinzip folgt. Damit würden dann aber bestimmte alternative Mitteilungsmittel ausgeschlossen, wie zum Beispiel aus dem Bereich der Buchstabenmagie, die einen anderen Sinn oder Verborgenes zeigen, mitunter sogar etwas verborgen halten sollen. S. weist darauf hin, dass es sich bei nicht-sprachgebundenen Mitteilungsformen und sprachgebundener Schrift um zwei verschiedene Kommunikationsweisen handelt (30). Auf diesen Vorüberlegungen basierend schreitet S. die bekannten Stationen ab: Fels- und Höhlenbilder sowie graphische Zeichen/Symbole, linearer Graphismus (Zeichenfolgen), verschiedene archaische Schriften bis hin zu Mykene und Linear-A (Kreta). Es versteht sich, dass auch Keilschriften und die Kulturen der Sumerer, Akkader, Babylonier und Assyrer nicht fehlen dürfen, dass eine Einordnung der ägyptischen Hieroglyphen4 erfolgt (passend hier auch ein Exkurs über die spannende Entzifferung alter, untergegangener Schriften5), dass die chinesische Schrift und ostasiatische Schriftkultur in den Blick geraten und zusammenfassend über Funktion und Untergang der alten Schriftsysteme reflektiert wird.

Ähnlich verhält es sich auch mit den nächsten Kapiteln: S. stellt die “Alphabetschrift und griechisch-hellenistische Schriftkultur” (55-80) und die “Römisch-lateinische Antike und Latinität” (81-105) dar, wendet sich “Schrift und Buch in Ritus, Religion und Magie bis zum Mittelalter” (107-128) zu und beschreibt die “Frühmittelalterliche byzantinisch-islamisch-christliche Manuskriptkultur” (129-158).

Kapitel sieben ist dann — McLuhans Phasenschema folgend — ein Bruch, erfolgt doch der Übergang “Von der Handschrift zum Druck: Die Konstituierung der europäischen Schriftkultur bis zum späten Mittelalter” (159-184). Deshalb geht es S. in einem eigenen Kapitel dann mehr um eine grundsätzliche Einschätzung dieses Übergangs, auch dessen Auswirkungen auf heute (“Buchdruck/Typographie: Das neue Medium als Medium für das Neue”, 185-208). Kapitel neun (“Typographische Schriftlichkeit, Buch und Buchhandel bis zum 18. Jahrhundert”, 209-229) schliesst sich chronologisch und inhaltlich an, während eine Darstellung über “Das Universum der Bibliotheken: Büchersammlungen und Büchersammler” (231-252) eben nicht ab dem 18. Jahrhundert einsetzen kann, sondern in vorangehende Epochen hineingreifen muss. Hier wäre sicherlich ein Regress auf antike Bibliotheken (Alexandria, Caesarea) und das Phänomen der Buchleihe, des Buchhandels und des Büchersammelns angebracht gewesen, ergeben sich doch gerade aus der Antike wertvolle Aufschlüsse über später wieder oder neu einsetzende Phänomene.

Die letzten drei Kapitel führen dann mehr oder weniger fort, was im Eröffnungskapitel programmatisch vorgezeichnet ist. Zunächst geht es S. um “Die Neue Welt des Lesens: Typographische Schriftkultur als Lesekultur” (253-275). Ist Lesen blosse Wiedergabe (ein Ablesen)? Ist es Genuss, Ausdruck von Musse und Geselligkeit? Wie sind die unterschiedlichen Lesepraktiken zu verstehen (Vielleserei; Lesen zum Zeitvertreib und zur Unterhaltung)? Wie ist die westeuropäische Massenalphabetisierung aus heutiger Sicht zu werten und ist nicht das die Folie, auf der wir heute alternative moderne Medien als Gefahr für die Schriftkultur bewerten? Logischerweise wendet sich S. dann der “Schriftkultur als Massenkultur: Autor – Markt – Publikum seit dem 19. Jahrhundert” (277-306) zu. Es kommt zu neuen Formen des handschriftlichen Schreibens, etwa aufgrund der Notwendigkeit im Gerichtswesen oder in Parlamenten stenographische Aufzeichnungen führen zu müssen. Auch neue Kopier- und Vervielfältigungstechniken tragen zur Beschleunigung des Schreibens bei (unter anderem die Erfindung des Füllfederhalters). Schreibmaschine und Rotationspresse als Formen der typographischen Schriftkultur trugen ihren Teil hierzu bei. Hinzu kommt die Professionalisierung des Autorberufs, so dass Autoren als Urheber ihrer Werke ein echtes Eigentumsrecht besassen. Einher geht damit der Ausbau des Buch- und Pressemarkts. Schriftkultur wird also Massenkultur, die immer wieder auch von Zensur und Kulturpolitik beeinflusst wird. S. führt seine Darstellung mit dem Kapitel “Schrift- und Lesekultur im Jahrhundert der Medienkonkurrenz” (307-319) zu Ende. Ist unsere Medienkultur eine Fortführung der Entwicklungen des 19. Jahrhunderts oder — wie dies gerade Kritiker der (Massen)Medienkultur postulieren — ein Bruch mit diesen? Gründe gibt es für beide Annahmen, doch S. sieht in erster Linie die medienkritische Position dahingehend als problematisch, dass sie den medialen Neuerungen zu reserviert gegenüber stehen und doch immer Übergange stattfanden. Letztlich muss es sich erst noch erweisen, inwiefern die generelle Verfügbarkeit von Schriftlichem und die Schnelllebigkeit des im Internet Veröffentlichten die Schriftkultur prägen und in welche Richtung sie diese leiten werden. S. endet mit der Frage, ob wir denn vor dem Ende der Schriftkultur stehen. Seiner Einschätzung nach, und da ist ihm uneingeschränkt beizupflichten, ist die Ausrichtung der Fragestellung falsch (318): “Man sollte anstelle des Unmöglichen, nämlich die folgen der Zukunft für die Gegenwart zu ermessen …, sich mehr mit den nachprüfbaren Konsequenzen der bisherigen Geschichte der Schriftkultur für die Gegenwart befassen.” Genau das ist es, was S. mit seinem Buch getan hat.

Die eingefügten Abbildungen und Schrifttafeln tragen sehr zur Anschaulichkeit bei. Zudem flechtet S. an geeigneter Stelle eigene methodische Reflektionen ein und bietet auch kritisch Ansätze aus der Forschungsgeschichte. Sein Problembewusstsein wird an unterschiedlichen Stellen besonders deutlich, etwa wenn er auf Platons Bildungsideal zu sprechen kommt, das aber nur die männliche Bevölkerung und Vollbürger betraf und damit nur etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung der Stadt erfassen konnte (69-71) oder wenn er mit gebotener Vorsicht den Übergang von der Schriftrolle zum Kodex und von Papyrus zu Pergament darstellt (94-98). Darüber hinaus besteht der Nutzen des Buchs auch darin, dass hier erstmals sonst nur verstreut zugängliche Daten, Thesen und Begriffsdiskussionen zur Schriftkultur sowohl zusammen gestellt sind, als auch durch kluge Erläuterungen gleichzeitig einem Fachpublikum und einer interessierten Leserschaft erschlossen werden. Das allein ist ein nicht hoch genug einzuschätzende Leistung.

Notes

1. So beispielsweise hinsichtlich unterschiedlicher Perspektiven: Aleida und Jan Assmann, in: Aleida und Jan Assmann/Christof Hardmeier (Hg.), Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation. München: Fink 1983, 268: “Der sich [oral] Erinnernde hat die Vorfahren, der Schreibende die Nachkommen im Blick. Schrift und [orales] Gedächtnis wirken so als zwei grundsätzlich verschiedene Formen der Orientierung und Aneignung von Wirklichkeit.”

2. Vgl. Marshall McLuhan, The Gutenberg Galaxy. Toronto: University of Toronto Press 1962 (im fortlaufenden Text von S. fälschlicherweise angeführt als “The Gutenberg Galaxis”).

3. S. nennt etwa die Geschichte des Schreibens und der Schriftreflexion. Hier könnte auch die Problematik einer Verhältnisbestimmung von Lesen und Schreiben genannt werden, wie sie im Aufsatz von Karl Vössing, Schreiben lernen, ohne lesen zu können? Zur Methode des antiken Elementarunterrichts, ZPE 123, 1998, 121-125, aufscheint.

4. S. weist die Bezeichnung “Hieroglyphen” dem Clemens Alexandrinus zu. Allerdings ist diese Bezeichnung bereits seit der ptolemäischen Zeit geläufig. Hieroglyphen galten als dekorative Variante des Hieratischen, nur dass sie auf Stein, letztere als Buchschrift Verwendung fanden. Davon zu unterscheiden ist das Demotische als Schreibschrift des Alltags.

5. Die Eingangs dieser Rezension angedeuteten Grenzen einer Darstellung der Schriftkultur treffen auch auf den Exkurs zu. S. kann immerhin die Faszination andeuten, die von archaischen Schriften ausging und deren Entzifferung stets eine Meisterleistung darstellt. Ausführlich hierzu Ernst Doblhofer, Die Entzifferung alter Schriften und Sprachen. Leipzig: Reclam, 2. Aufl., 2000 (Wien: Paul Neff Verlag KG 1957).