Der zweite Band der neuen Oxforder Demosthenes-Gesamtausgabe bietet auf 394 (dankenswerterweise paginierten) Seiten den Text der Reden 19 bis 24 samt einem Testimonienapparat und einem kritischen Apparat. In der Einleitung wird die Kurzbeschreibung der Haupthandschriften (S A F Q Y) aus Band I wiederholt, erweitert um den Kodex P, der für die Reden 1 bis 18 ohne Bedeutung ist, an wenigen Stellen der im zweiten Band enthaltenen Reden indes plausiblere Lesarten als die anderen Handschriften biete (VII). Man findet außerdem knappe Erläuterungen zu Besonderheiten der Gestaltung der Ausgabe (scriptio plena; Apparate, s.u.), eine Liste der Papyrusfragmente und Verzeichnisse der in den Apparaten benutzten Abkürzungen für Autoren bzw. Werke sowie der Siglen.
Auf die Überlieferungsgeschichte des Demosthenes-Textes war Dilts bereits in der Einleitung zum ersten Band eingegangen: Eine durchgängige und einseitige Bevorzugung einer oder mehrerer der Haupthandschriften (etwa A F Y gegenüber S oder umgekehrt), die in der Vergangenheit Gegenstand einer ebenfalls in Bd. I erwähnten Kontroverse gewesen war, lässt sich seiner Ansicht nach nicht rechtfertigen. Für die Textgestaltung prägend wird folglich die bei offener Rezension immer anzuwendende Einzelfallentscheidung, d.h. hier to consider differences between S and A F Y on a case by case basis (Bd. I, XVI). Die Daseinsberechtigung der neuen Ausgabe ergibt sich also nicht aus neuen Erkenntnissen zur Überlieferungsgeschichte (hinzugekommen sind allerdings eine Reihe neuer Papyrus- und Pergamentfragmente), sondern aus anderen Vorzügen gegenüber den älteren Editionen.1 Ich ziehe im folgenden zum Vergleich die Oxfordiana von Butcher und Rennie (1903-1931) heran, da sie deutlich weitere Verbreitung gefunden hat als die 13bändige, von Dilts unerwähnte Edition der Budé-Reihe (1924-1987).
Weggefallen sind leider die in der älteren Oxfordiana jeweils vor die Reden gesetzten Hypotheseis. Die Kopfzeilen enthalten nicht nur jeweils links
Der über dem kritischen Apparat stehende Testimonienapparat ist die auffälligste Neuerung gegenüber der älteren Edition.2 Verzeichnet sind sowohl die auf aus dem 1. bis 6. Jh. stammenden Papyri oder Pergamentstücken bewahrten Textfragmente als auch die bei Autoren aus dem Zeitraum vom 1. Jh. v. Chr. bis zum 14. Jh. n. Chr. zitierten Partien aus Reden des Demosthenes. Man erfährt, welcher Autor was zitiert hat und darüberhinaus (nämlich im kritischen Apparat) gegebenfalls mit welchem von den Handschriften abweichenden Wortlaut. Für die weitgehend noch zu leistende Erforschung der Demosthenes-Rezeption und überdies die Praxis des Zitierens in Antike und Mittelalter hat Dilts damit eine wertvolle Grundlage geschaffen, deren Zuverlässigkeit, wie Stichproben ergeben haben, sehr hoch ist.
Was den Text selbst betrifft, so besteht der gravierendste und sofort ins Auge springende Unterschied zwischen der alten und der neuen Ausgabe darin, dass sehr oft scriptio plena durchgeführt wird, wodurch sich die Frequenz der im Schriftbild erscheinenden Hiate sprunghaft erhöht. An all denjenigen Stellen, wo S und A übereinstimmend oder eine der beiden scriptio plena haben, lässt Dilts den Hiat zu und rückt damit von der auf das 19. Jh. zurückgehenden editorischen Praxis der strikten Hiateliminierung ab.3 Die daraus resultierende Uneinheitlichkeit mag mancher bedauern,4 Dilts pragmatische Verfahrensweise hat jedenfalls den Vorteil, dass nicht mehr wie früher eine Konsequenz der (schriftlichen) Hiatmeidung suggeriert wird, die in den Überlieferungsträgern — mittelalterlichen wie antiken — keine Grundlage hat. Einen ähnlich bunten Wechsel zwischen Elision bzw. Aphairesis und scriptio plena scheint es auch in den antiken Editionen gegeben zu haben, und für die authentische Praxis des Aussprechens und Vortragens können diese schwankenden Schreibweisen ohnehin gar nichts besagen.
Ansonsten weicht der neue Oxford-Text eher selten von seinem Vorgänger ab (in or. 20 beispielsweise habe ich ungefähr zwölf substantielle Fälle gezählt), sei es durch Abkehr von konjekturalen Eingriffen und Beibehaltung der Überlieferung (z.B.: 20,26
Notes
1. Die von P. Demont in seiner Rezension zu Bd. I (REG 115, 2002, 842f.) geäußerten Zweifel an der Nützlichkeit einer neuen Demosthenesausgabe teile ich nicht; zu Recht vermisst Demont indes eine Stellungnahme des Editors zu den wiederholten Textpassagen, zur antiken Anordnung der Reden sowie zu dem Problem der zitierten Dokumente.
2. Vorbild waren wohl die entsprechenden Apparate in den kommentierten Einzeleditionen von or. 21 (Oxford 1990) und or. 19 (Oxford 2000) von D. MacDowell.
3. Ähnlich verfährt bereits D. MacDowell (vgl. Anm. 2) mit einleuchtender Begründung (1990, 80-82).
4. Demont (vgl. Anm. 1) meint, Dilts habe das Problem zu wenig ernst genommen.