BMCR 2007.03.08

Römische Studien: Geschichtsbewusstsein – Zeitalter der Gracchen – Krise der Republik. Beiträge zur Altertumskunde, Band 232

, Römische Studien : Geschichtsbewusstsein - Zeitalter der Gracchen - Krise der Republik. Beiträge zur Altertumskunde ; Bd. 232. München/Leipzig: Saur, 2006. xi, 434 pages : some illustrations ; 24 cm.. ISBN 3598778449. €118.00.

Eine Schriftensammlung ist ein heikles Unterfangen. Es ist verständlich, dass ein verdienstvoller Forscher seine Beiträge in gesammelter Form vorlegen möchte, doch stellt sich hierbei immer wieder die Frage, inwieweit ein derartiger Sammelband nutzbringend und angesichts des sehr hohen Preises vertretbar ist. Die inhaltliche Qualität der Studien des Althistorikers Jürgen von Ungern-Sternberg (fortan U.), die zum Teil bisher nur abgelegen publizierten Aufsätze und Rezensionen sowie die Integration von bisher unveröffentlichten Forschungen und Übersetzungen fremdsprachiger Beiträge rechtfertigen allerdings zweifellos die Publikation der vorliegenden Sammlung.

Ausgewählt wurden 32 Beiträge aus 35 Jahren Forschungsarbeit, darunter drei bisher unveröffentlichte Vorträge, sechs Rezensionen und zwei Einleitungen zu den Nachdrucken der “Römischen Republik” M. Gelzers und des “römischen Staates” E. Täublers. Inhaltlich ist das Werk in zwei grosse Hauptteile gegliedert: Die ersten vierzehn Beiträge sind der “Römischen Geschichtstradition”, die weiteren Untersuchungen dem “Zeitalter der Gracchen” und der “Krise der römischen Republik” gewidmet;1 Themenbereiche also, welche schon U.s Dissertations- und Habilitationsschrift bestimmt haben.2 Im Folgenden werden nur einige ausgewählte Aufsätze, insbesondere die bisher unpublizierten, diskutiert.

In dem mehrfach erweiterten Beitrag “Das Dezemvirat im Spiegel der römischen Überlieferung” (1986, 2005) widmet sich U. der Kodifizierung des 12-Tafel-Gesetzes bei Livius und Dionysios von Halikarnassos. Zwar seien nahezu sämtliche Aussagen der beiden Historiker zur Königszeit und frühen Republik zu verwerfen, unter anderen Gesichtspunkten hätten beide jedoch einen gewissen Quellenwert. U. ist der Ansicht, dass das zweite Dezemvirat, welches angeblich zwei weitere Gesetzestafeln zu den schon verabschiedeten zehn Tafeln hinzugefügt haben soll, nicht historisch sei, und zwar unter Berufung auf Sex. Pomponius (Dig. 1,2,2,4; 24), welcher in diesem Zusammenhang nur ein Kollegium erwähnt. Allerdings geht U. nicht von einer annalistischen Erfindung aus, sondern denkt, dass Livius und Dionysios eine spätrepublikanische Quelle aus den 30er Jahren v.Chr. benutzt hätten. Zu dieser Vermutung gelangt er mittels der Beobachtung, dass das zweite Dezemvirat in der Art und Weise, wie es seine Vollmachten zu behalten suchte, dem so genannten zweiten Triumvirat frappierend ähnele: “Hier wie dort wird ein ausserordentliches Amt zur Neuordnung des Staates unter Hinweis auf die noch nicht vollendete Aufgabe über den vorhergesehenen Endtermin hinaus fortgeführt, der ‘Zweckfrist’ also der Vorrang vor der ‘Zeitfrist’ eingeräumt” (91). U. ist somit der Ansicht, dass sich bei Livius und Dionysios Spuren einer indirekten Kritik an den Triumvirn finden. Im Anhang, welcher U.s Überlegungen zur Quellenfrage enthält, führt er aus, dass “der Widerspruch zwischen der zeitlichen Begrenzung des Dezemvirats und dem Verweis auf die Aufgaben der Gesetzgebung […] in Rom nur einmal akut gewesen [ist]: im zweiten Triumvirat. Sullas sehr ähnlich begründete Diktatur war zeitlich unbefristet, Caesar hatte nicht den Auftrag rei publicae constituendae” (95). Verschiedene weitere Überlegungen führen U. zu dem Schluss, dass es sich bei der fraglichen Quelle um eine Darstellung des L. Aelius Tubero oder seines Sohnes, Q. Aelius Tubero, handeln müsse.

Diese These steht und fällt natürlich mit der Bewertung der Parallelen zwischen zweitem Dezemvirat und zweitem Triumvirat. Schon vor seinen weitergehenden Schlüssen versucht U. die meines Erachtens näher liegende griechische Tyrannentopik zu entkräften (87), indem er auf weitere Parallelen zur Zeit der Gracchen und zum ersten Triumvirat hinweist. Zu bedenken ist allerdings — und dies lässt U. ganz ausser Acht —, dass gegen eine Widerspiegelung des zweiten Triumvirats der Umstand spricht, dass aus dem Zehnerkollegium anders als im Dreierbund allein Ap. Claudius hervorsticht und dass es sich bei den neun weiteren Dezemvirn um dessen Gefolgsleute handelt. Claudius erscheint also eher als griechischer Tyrann denn als Triumvir, womit auch die Identifizierung der gemeinsamen Quelle des Livius und Dionysios mit der Darstellung des L. oder Q. Tubero ihre einzige Stütze verliert. Ganz abgesehen von dem umstrittenen Charakter der Diktatur(en) Caesars3 könnte ebenso gut eine Kritik an der wiederholten Bekleidung dieses Amtes bzw. an der Übernahme der Diktatur auf Lebenszeit gemeint sein. Das letzte Wort ist hier also noch nicht gesprochen.

In dem sechsten, bisher unveröffentlichten Artikel dieser Sammlung “Hungersnöte und ihre Bewältigung im Rom des 5. Jh.s v.Chr. Eine Studie zu mündlicher Überlieferung” greift U. die Thematik der mündlichen Überlieferung auf. In Auseinandersetzung mit dem Aufsatz “Le frumentazioni in Roma nel V sec. a. C.” (1938) von A. Momigliano, der die Versorgungskrisen der Jahre 492/1, 440/39, 433 und 411 v.Chr. für historisch hält, macht U. auf zahlreiche Parallelen zwischen den einzelnen Hungersnöten aufmerksam, welche seiner Ansicht nach zum einen dafür sprechen, dass die Krisen erfunden bzw. identisch sind, und zum anderen dafür, dass die römischen Annalisten nicht auf Aufzeichnungen der pontifices, worauf das Fragment aus dem Werk des Cato Censorius (F 77 Peter) hinweisen könnte, sondern auf mündlichen Überlieferungen basierten. Will man U. hierin folgen, muss man auch gemeinsam mit ihm den Schluss ziehen, dass die Annalisten mündlich Tradiertes unbesehen niedergeschrieben habe, worüber sich natürlich trefflich streiten lässt.

Der gleichfalls noch unpublizierte und aus einem Vortrag hervorgegangene Beitrag “Die Gefahr aus dem Norden — die traumatischen Folgen der Gallierkatastrophe” thematisiert den metus Gallicus von der Besetzung Roms in 390 (Livius) bzw. 387/6 v. Chr. durch Brennus bis zu den Gallischen Kriegen unter Caesar in den 50er Jahren v. Chr. mit kleineren Ausblicken in die frühe Kaiserzeit, in welcher die Gallier bzw. die Furcht vor ihnen immer noch eine gewisse Rolle spielten. Dabei widmet sich U. sowohl der traumatischen Wirkung als auch der methodischen Vereinnahmung des metus Gallicus.

Bei dem neunten Aufsatz “Das Ende des Ständekampfes” (2005) handelt es sich um eine erweiterte Fassung eines ursprünglich 1980 publizierten Textes. Im Vordergrund steht die Frage nach der Datierung des Endes des so genannten Ständekampfes. Vorneweg bemerkt U. zum Forschungsstand: “[…] die bisherigen Analysen des Endes des Ständekampfes erweisen sich als einseitig und ungenügend. Indem sie sich auf die prominenten Familien und Führer konzentrierten, gerieten die anderen Plebejer ausser Sicht. Dementsprechend wurde die Frage, was die Herausbildung der patrizisch-plebejischen Nobilität für die Plebejer in ihrer Gesamtheit bedeutete, weitgehend vernachlässigt” (149). Im Folgenden geht es U. vor allem um die Klärung der Zielsetzung der verschiedenen politischen Handlungen des C. Flaminius (cos. 223, 217). Dessen Politik fasst U. folgendermassen zusammen: “Flaminius und seine Anhänger hatten erkannt, dass die arrivierten Plebejer nicht mehr gewillt waren, spezifisch plebejische Forderungen zu den ihren zu machen. Sie suchten demgegenüber das plebejische Sonderbewusstsein wachzuhalten […]. Und sie nutzen die Möglichkeiten des Volkstribunats auch gegen den Willen des Senats. Dabei waren sie insbesondere bestrebt, die plebejischen Magistraturen vorsorglich gegen eine Einflussnahme der Nobilität abzuschirmen” (158). Zu den genannten Anhängern rechnet U. wegen der lex agraria des Flaminius und seines Einflusses auf die Verabschiedung der lex Claudia de nave senatorum sowohl “konservativ-bäuerliche Schichten” als auch “geld- und handelsorientierte Kreise, den Kern des aufstrebenden Ritterstandes” (159). Somit geht U. von einer Fortführung des Ständekampfes aus. Ging es vorher um eine Durchsetzung der plebejischen gegen die patrizischen Interessen, so änderte sich nach der lex Hortensia von 287 v.Chr. die Konstellation der Gegner: “Der ständische Gegensatz zwischen Patriziern und Plebejern hatte sich somit in einen sozialen zwischen Arm und Reich gewandelt. Folgerichtig mussten nunmehr die Forderungen der Plebejer gegen das neue Establishment, die Nobilität, durchgesetzt werden” (159f.). Ein Schwachpunkt in der Argumentation U.s ist allerdings die Propagierung eines Kampfes zwischen “Arm” und “Reich” bei gleichzeitiger Annahme einer Unterstützung des Flaminius durch “geld- und handelsorientierte Kreise”.

Zuzustimmen ist U.s Ansatz, die lex Hortensia in ihrer Bedeutung als Zäsur für das Ende des Ständekampfes insgesamt zu relativieren. Zwar sei es richtig, dass “die pauschale Anerkennung aller künftigen (!) Plebiszite seitens der Nobilität ein hohes Mass an Integration der Plebs in das Gemeinwesen voraussetzt. Sie war nur praktikabel, wenn und weil der Gegenstand der Plebiszite […] nicht ‘systemsprengend’ wirkte. Eine Rolle wird auch gespielt haben, dass der plebejische Teil der Nobilität unter den 10 Volkstribunen vertreten sein […] konnte. Andererseits war dadurch der Gegensatz der Stände nicht aufgehoben, sondern […] geradezu institutionalisiert worden. Die Plebejer blieben ein Kampfverband” (161f.). Nach U. war der Ständekampf erst 217/6 mit den Niederlagen der Römer im Krieg gegen Hannibal beendet worden, als “Senat und Volk enger zusammenrückten […]. Jetzt begannen die Volkstribune Gesetze auf Initiative des Senats vor die Versammlung der Plebs zu bringen, wurde diese also zu einem Organ des Gesamtstaates” (165). Diese Ansicht stützt U. mit Polybios’ Aussage (6,11), dass Rom erst im zweiten Punischen Krieg seine Verfassung perfektioniert habe, was sich in ähnlicher Form bei Sallust (frg. 11M) wieder findet.

Dieses Ergebnis führt U. zu dem weiteren Schluss, dass die Gracchen — auch angesichts ihrer “forerunners” (L. R. Taylor) seit der Mitte des 2. Jh. — keinesfalls einen “revolutionären Neubeginn” (167) unternommen haben. Ebenso sei der Anspruch der Popularen im letzten vorchristlichen Jh., in der Tradition der Ständekämpfe zu stehen, berechtigter als die Forschung es ihnen zugesteht. Ein Anhang zum Aufsatz verweist auf die weitere Diskussion in der Forschung.

U.s bisher unveröffentlichter Beitrag “Appians Blick auf Rom” gibt einen guten Überblick zum Alexandriner und dessen Werk. Neben einer Darstellung der bekannten Einzelheiten zu Appians Person wird dessen Verhältnis zu Griechenland und Rom sowie seine Einstellung zur römischen Verfassung und zum Untergang der römischen Republik im Besonderen unter Berücksichtigung der neuesten Forschung untersucht. U. kommt hierbei zu dem interessanten Schluss, dass bei Appian “die Krise der späten Republik nicht einem Defizit der Verfassung [entspringt], sondern […] ausschliesslich auf den Verlust der Eintracht, der Kompromissfähigkeit, zurückgeführt” wird (209). Auf die leidige Frage nach Appians Quellen, insbesondere dem Umfang, in dem Asinius Pollio für die Bücher über die Bürgerkriege herangezogen worden ist, geht U. nicht detaillierter ein;4 ebenso wenig auf die Diskussion um die Authentizität des Proskriptionsediktes.5 Insgesamt folgt U. der aktuellen Tendenz, Appian mehr Eigenständigkeit im Umgang mit seinen Quellen zuzutrauen. Hinsichtlich der Zielgruppe der römischen Geschichte Appians ist U. der Ansicht, dass man es bei einem non liquet belassen müsse.

Der ursprünglich in einem Sammelband zu Prozessen der römischen Antike 1997 erschienene Aufsatz “Das Verfahren der Catilinarier oder: Der vermiedene Prozess” gibt einen Überblick über die bekannten Stationen der politischen Karriere des Lucius Sergius Catilina und widmet sich hernach der politischen Auseinandersetzung um die Verurteilung der Catilinarier im Jahre 63 v.Chr. Kernpunkt ist die Beurteilung der Rechtmässigkeit der an über diese Römern verhängten Todesstrafe.

U. stellt heraus, dass die vom Senat verurteilten Catilinarier keinen regelkonformen Prozess erhalten hätten: “Dazu fehlten dem Verfahren im Senat allzu wesentliche Elemente” (351). Erstens habe die Versammlung der patres in republikanischer Zeit nie als Gerichtshof fungiert, zweitens htte auch ein Geständnis keineswegs eine sofortige Hinrichtung durch den Magistrat zugelassen6 und drittens waren Kapitalverbrechen im Regelfall ans Volk weiterzugeben. Ciceros Einwand, die Vaterlandsverräter hätten ihr Bürgerrecht verwirkt, sei gegenstandslos: “Wenn aber weder hostis -Erklärung noch Senatusconsultum ultimum als Rechtfertigung für den Hinrichtungsbeschluss geltend gemacht werden konnten, dann blieb nur eine Begründung: der Zustand drängender Gefahr. […] hätte man die Catilinarier am Leben gelassen, so hätte dies als Schwächezeichen des Senats aufgefasst werden können” (354). Doch auch dieses Argument lässt U. nicht gelten und fragt deshalb zu Recht, warum nicht ein ordentliches Verfahren aufgenommen worden sei. Die ernüchternde und zweifelsfrei logische Erklärung ist, dass Cicero am Abschluss der Affäre vor dem Ende seines Consulats interessiert war und dass — wie schon zuzeiten der Gracchen — “auch jetzt weniger Recht gesprochen als ein Exempel statuiert werden” sollte (354).

“Es war nur noch ein Schritt zur Aufhebung aller positiven Normen zugunsten des subjektiven Rechts der Verteidiger der Republik, wie sie Cicero im Jahre 43 in seinen Philippischen Reden im Kampf gegen Antonius begründete” (357).7

An die 35 Beiträge angehängt ist ein eindrucksvolles Schriftenverzeichnis, welches nicht nur Publikationen zur Alten Geschichte umfasst. Etwas misslich wirkt sich der Umstand aus, dass die ursprünglichen Seitenzahlen nicht mit abgedruckt sind, zumal die alten Querverweise zum Teil nicht an die neue Paginierung angeglichen wurden. Auch ein Register wäre nützlich gewesen. Ferner sind beim Scannen der Texte hier und da Fehler übersehen worden; diese bleiben aber im verzeihbaren Rahmen.

Insgesamt legt U. mit seiner Aufsatzsammlung zum römischen Geschichtsbewusstsein und zur späten römischen Republik eine Vielzahl an Beiträgen vor, welche wie schon seine Dissertations- und Habilitationsschrift in der Forschung bereits fruchtbare Diskussion hervorgerufen haben oder noch hervorrufen werden und welche sich aufgrund ihres durchweg sachlichen und sprachlich gehobenen, nie polemischen Stils wohltuend von manch anderen Veröffentlichungen jüngerer Zeit hervorheben.

Notes

1. Unverständlich ist die Integration des ursprünglich 1989 publizierten und nicht in die Sammlung passenden Aufsatzes ” Germania capta. Die Einrichtung der germanischen Provinzen durch Domitian in römischer Tradition”.

2. Untersuchungen zum spätrepublikanischen Notstandsrecht. Senatusconsultum ultimum und hostis -Erklärung (München 1970); Capua im Zweiten Punischen Krieg. Untersuchungen zur römischen Annalistik (München 1975).

3. M. Sordi, I poteri dell’ultimo Cesare. In: G. Urso (Hg.), L’ultimo Cesare. Scritti, riforme, progetti, poteri, congiure (Rom 2000) 305-313, bes. 307.

4. Hierzu K. Matijevic, Marcus Antonius: Consul – Proconsul – Staatsfeind. Die Politik der Jahre 44 und 43 v.Chr. Osnabrücker Forschungen zu Altertum und Antike-Rezeption 11 (Rahden/Westf. 2006) 18f.

5. Dazu zuletzt J. Osgood, Caesar’s Legacy. Civil War and the Emergence of the Roman Empire (Cambridge u.a. 2006) 63f.

6. So allerdings W. Kunkel/R. Wittmann, Staatsordnung und Staatspraxis der römischen Republik. Die Magistratur. Handbuch der Altertumswissenschaften 10,3,2,2 (München 1995) 235f.

7. Hierzu Matijevic, Marcus Antonius, 221-225.