BMCR 2007.06.47

Grenzen der Nacktheit

, Grenzen der Nacktheit. Studien zum nackten maennlichen Koerper in der griechischen Plastik des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. Dissertation Freie Universitaet Berlin April 2005. Jahrbuch des Deutschen Archaeologischen Instituts 120. Berlin: Walter De Gruyter, 2006. Pp. 155. ISBN 9783110185669. €84.00.

Die nackte Darstellung des Mannes ohne Rücksicht auf die begleitenden Umstände ist ein Wahrzeichen griechischer Kunst, um dessen Verständnis sich die modernen Interpreten bereits seit über zwei Jahrhunderten bemühen. Eine traditionelle Forschungsrichtung rechnet diese Erscheinung zu den Manifestationen griechischer Idealität, die zudem inhaltlich konnotiert sein können (‘ideal’, ‘heroisch’ o. ä.). Rezensent (im folgenden Rez.) hat diese Spur weiter verfolgt, musste aber vor allem für die Hochklassik Fragen offenlassen.1 Ein anderes Vorgehen fordert T. Hölscher, der das Verständnis der nicht-realistischen Nacktheit auf dem Umwege über anthropologische Forschungen zu erreichen sucht.2 Diese Vorstellung ist allerdings in zweierlei Hinsicht illusorisch: die erste Forderung wegen des grenzenlosen Umfangs, die zweite, weil am Ende doch wieder der Übergang in ein anderes Genus, sprich Idealität, steht. Tatsächlich ist Hölscher selbst bisher einen Versuch schuldig geblieben und andere waren nicht glücklicher.

Das Thema hat bedeutend an Aktualität gewonnen seit, angeregt von einer Richtung der modernen Kunst, die sog. ‘Körperinszenierung’ (im folgenden KI) eine ästhetische Erforschung des Körpers betreibt und eine Flut von kunsttheoretischer und anthropologischer Literatur hervorgebracht hat.3

Dies ungefähr ist die Situation, in der Jens Daehner (im folgenden D. mit Seitenzahl) mit seiner von A. H. Borbein betreuten Berliner Dissertation “Grenzen der Nacktheit” in die Diskussion eintritt.

Das Programm, das er einleitend 155 ff. entwickelt (Kap. ἰ, beruht auf der Absicht, die ästhetischen Bedingungen zu ermitteln, unter denen nackte Darstellung in den verschiedenen Epochen möglich ist. Den Weg dahin weisen Analysen, in denen beschrieben wird, wo und wie nackte Körper in der jeweiligen Zeit ins Bild gesetzt werden. Das methodische Instrument liefert der besagte moderne Begriff der ‘Körperinszenierung’, den D. griechischen Verhältnissen anzupassen sucht (a. O. 157 ff. 163). Gemeint ist offenbar, dass der nackte männliche Körper nicht Gegenstand von reproduzierender Darstellung, sondern von ‘Inszenierung’ ist, als ob er auf eine Bühne gesetzt würde: “letztendlich sind es immer die Körper, die inszeniert werden. Ohne Körper existiert keine Szene”. Die Metapher von der Bühne soll offenbar die Bedingungen mit einbeziehen, unter denen ein Körper inszeniert wird: “Wie diese Inszenierungen ausfallen, hängt auch davon ab, wer gerade nackt auftritt” (a. O. 157). Bedeutungsfragen, für die sich frühere Betrachter bei nicht-realistischer Nacktheit interessierten, wie Idealisierung, Heroisierung, Athletentum usw. treten bei dieser Art des Umgangs mit dem Körper zurück (“quasi bedeutungsfreie Form” 158). D. will Nacktheit nicht als Bildchiffre lesen, die den dargestellten Figuren spezielle Qualitäten und Bedeutungen zuschreibt, vielmehr geht es ihm um Nacktheit als Bestandteil visueller Inszenierungen, die auf den Körper selbst verweisen und ihn durch “Emphatisierung” bedeutsam oder exemplarisch erscheinen lassen (160). Schlichter und verständlicher spricht D. in der Zusammenfassung 296 vom “Stellenwert der Nacktheit in der griechischen Skulptur des späten 5. und des 4. Jahrhunderts”.

Wenn D. in diesem Zusammenhang von Grenzen der Nacktheit spricht, so beruht das auf seiner Annahme, dass Nacktheit in archaischer Zeit eine universelle Eigenschaft von männlichen Figuren überhaupt war (“ästhetischer Normalfall” 156), während die Bedingungen für solche Darstellungen später immer enger werden. Diese Tatsache war natürlich immer bekannt (Beispiele bei Rez. Ideale Nacktheit a. O. 41 f. 52 f.).

So wenig anziehend das Vokabular der Theorie ist, es liegt eine grosse Verführung in dem Angebot, dem Umgang mit den Denkmälern eine bisher ungewohnte Unmittelbarkeit zu geben.

Als erstes Beispiel (Kap. II) für seine inszenatorischen Analysen hat D. den Fries des Parthenon gewählt. Die Panathenäenprozession enthält einige wenige nackte Figuren, deren Präsenz früheren, idealistisch eingestellten Betrachtern nicht weiter merkwürdig war, in jüngerer Zeit jedoch mehr und mehr zum Problem wurde. D. lässt ikonographische Fragen, die nach seiner Meinung nicht mehr wesentlich sind, beiseite und konzentriert sich ganz auf die “Inszenierung” der nackten Figuren. D. bemerkt richtig, dass die durch Nacktheit bzw. Entblössung auffallenden Figuren auch in anderer Weise, sei es durch kompositionelle Mittel, sei es durch charakteristische Ansichten hervorgehoben sind.

Trotz der Hervorhebung ist nicht zu erkennen, dass die “Nackten” wesensmässig eine eigene Gruppe bildeten. Weder in ihrer Funktion noch in ihrem Auftreten unterscheiden sie sich grundsätzlich von den übrigen Figuren des Frieses (D. 281 f.). Rez. hatte den eigentümlichen Befund damit erklärt, dass im Parthenonfries bürgerliche Thematik und ‘ideale’ Darstellung sich gegenseitig durchdringen und so die festlich-feierliche Atmosphäre entstehen lassen, die den Festzug von einem Alltagsbild unterscheidet. Das hätte eine Parallele auf einigen frühen weissgrundigen Lekythen, auf denen — wie man immer schon gesehen hat — der Verstorbene als Bürger, aber mit ‘vergeistigten’ Zügen wiedergegeben ist (Rez. Ideale Nacktheit a. O. 57 f.).

Die Ausführungen, mit denen D. den Fries kommentiert, nehmen durch einige knappe, anschauliche Beschreibungen für sich ein, lassen jedoch eine klare Linie vermissen. Wählen wir als Beispiel die Seiten 170 ff., auf denen D. unter der Überschrift “Emphatische Körper” Einzelheiten aus der Kavalkade der Nordseite erörtert. Ohne ersichtlichen Zusammenhang kommen zur Sprache: Beobachtungen zur Komposition und zur Ansicht ganzer Gruppen und einzelner Figuren, daneben Detailfragen zur Bedeutung ausgewählter Motive wie z. B. der anatomischen Gliederung der Körper, dann wieder sehr allgemeine strukturelle Erscheinungen. Alles dieses wird durchwegs von ästhetischen Wertungen begleitet. Damit unterscheidet sich D.s Vorgehen nicht wesentlich von herkömmlichen Beschreibungen und man sieht wenig Anlass, dafür die KI zu bemühen. Auch diese Betrachtungsweise, die dem Sinn D.s für Formales entgegenkommt, hat ihre Vorzüge, aber leider handelt es sich bei den Zugaben weitgehend um Geschmacks- und Qualitätsurteile. Das Ergebnis ist eine Art Kunstkritik, durch die man erfährt, dass etwas “raffiniert” gemacht sei. Ständige Wiederholungen etwas sei “regelrecht inszeniert”, “als Ereignis gestaltet”, “gezielt sichtbar gemacht” können Analysen ebenso wenig ersetzen wie übertriebene Formulierungen und angestrengte Vergleiche. Man greife beispielsweise die Seiten 176/177 heraus, die dafür zahlreiche, z. T. bizarre Belege liefern.4

Die Zusammenfassung (180) enthält denn auch nichts Konkretes, sondern ist wieder ein blasses Geschmacks- bzw. Qualitätsurteil: “Am Parthenonfries sind nackte Körper von einer erstaunlichen Exklusivität. Die Sorgfalt, mit der sie gestaltet sind, und der Aufwand, mit dem sie inszeniert werden, erscheinen daher konsequent”.

Die Feststellung D.s, dass nicht-realistische Nacktheit in der Parthenonzeit ihre Selbstverständlichkeit eingebüsst habe, ist keine neue Entdeckung (181). Sie ergibt sich aus einer ganzen Anzahl von zusammenhängenden Phänomenen, von denen Rez. einige zusammengestellt und erörtert hat, darunter auch den Parthenonfries (Rez. Ideale Nacktheit 52 ff.).

Das dritte Kapitel bestätigt die vom Rez. ebenfalls bereits früher geäusserte Ansicht, dass selbst die Nacktheit der Athleten auf Grabreliefs in klassischer Zeit keine Selbstverständlichkeit war (Rez. a. O. 68 ff.). Aus dem späten 5. Jahrhundert sind in Athen überhaupt nur 4-5 Reliefs bekannt, allesamt mit individuellen Darstellungen. Seit dem frühen 4. Jahrhundert werden Stelen nackter Kinder und Epheben langsam häufiger, aber erst nach der Jahrhundertmitte bekommt die Figur des nackten jungen Mannes mit oder ohne Athletenattribute einen festen Platz unter den Grabmälern. Obwohl das häufig bestritten wird, steht die Erscheinung zweifellos im Zusammenhang mit dem latenten Heroismus, den attische Stelen in dieser Zeit erkennen lassen. Dafür sprechen auch andere ikonographische Hinweise, die schon seit langem bekannt sind. Abgesehen von einigen ironischen Spitzen hält sich D. in der Frage heroisierender Tendenzen auf Grabreliefs bedeckt, obwohl dies für die Deutung der nackten jungen Männer auf Stelen von entscheidender Bedeutung wäre (D. 189; 219; 221). Wir weisen in diesem Zusammenhang auf die jüngste Äusserung von Chr. H. Hallett hin, der es für absolut sicher hält, dass die Figur des nackten jungen Mannes mit Waffen spätestens in der Alexanderzeit heroisch konnotiert war.5 Da diese Figur in verschiedenen Landschaften, vor allem in Süditalien, schon auf eine längere Entwicklung in der Heroen-Ikonographie zurückblickte, muss der Gedanke schon wesentlich älter sein.

Um Deutungen ist D. nicht verlegen, wofür die bekannte Stele des Eupheros aus dem späten 5. Jahrhundert ein lustiges Beispiel abgibt (wenn Rez. seinen Text richtig verstanden hat): Eupheros ist im bürgerlichen Mantel dargestellt, war nach den Funden im Grab aber höchstens 10 Jahre alt. Seine Angehörigen wollten ihn also offenbar älter erscheinen lassen. Dazu passt es nach D., dass auf der Stele die Hand des Jungen das Gemächte verdeckt: man sollte nicht merken, dass er weit jünger war, als das Bild suggerierte (186).

Ernsthafter ist die Widersprüchlichkeit in der Behandlung der meisterhaften Ilissos-Stele, die den Verstorbenen als nackten Jäger dem hinterbliebenen Vater gegenüberstellt. D., der die Frage nach objektivierbaren Grössen wie z. B. heroischen Zügen als unwesentlich ablehnt, ergeht sich hier in unkontrollierbarem Psychologisieren mit der Behauptung, die Nacktheit des Jünglings stelle ein Schauen-Müssen des Todes dar, ein durch nichts gerechtfertigtes Aperçu, das ihn so bewegt, dass er ihm eine ganze Seite widmet (214).

Die Wahl des dritten Themas, der praxitelischen Satyrstatuen, ist auf den ersten Blick verwunderlich. Götter, insofern sie Urbilder sind, beachten zwar auch Bedingungen von Nacktheit, wie z. B. mit wenigen Ausnahmen Hephaist, bei dem die banausische Erscheinung sich mit der idealisierenden Wirkung von jugendlicher Nacktheit nicht verträgt. Bei Naturwesen wie den Satyrn sollte Nacktheit jedoch kein Problem sein, bei ihnen ist vielmehr Bekleidung unnatürlich und hat zumeist parodistischen Charakter. D. wird jedoch nicht müde zu betonen, dass die praxitelischen Statuen, besonders aber der Einschenkende für das Verständnis von Nacktheit entscheidend Neues bringen.

Für die von ihm um 370-60 datierte Figur breitet er zunächst reichlich monographisches Material aus, wozu auch vollständige Replikenlisten und Kopienkritik gehören. Das Motiv des Einschenkens musste natürlich untersucht und von der ähnlichen Gestik des Epheben Westmacott unterschieden werden. Das führt auf den Vergleich der ganzen Figuren mit dem Ergebnis, dass das ‘Körperbild’ des Satyrs direkt vom Epheben Westmacott übernommen ist. Diese Ableitung ist angeblich mit einer völligen Umdeutung der Satyrstatue verbunden. Der Satyr legt alles Wilde und Ungestüme seiner Natur ab und nimmt eine vollkommen bürgerliche Erscheinung an. D. beschreibt diesen Wesenswandel intensiv bis in Einzelheiten eines Bürgerideals der Sophrosyne und hat keine Hemmungen, ihn als καλὸς κἀγαθός zu titulieren. Er legt seine mythologische Identität ab und wird dadurch menschlich d. h. bürgerlich im Sinne der Polis (252).

Man fragt sich natürlich, was die scheinbar willkürliche Verwendung des gleichen Körpers für einen Athleten und einen Satyrn – verbunden mit dem Verlust von dessen mythologischer Persönlichkeit – für einen Sinn haben soll: ein Satyr, der keiner mehr ist, obwohl er durch die Spitzohren weiterhin benennbar bleibt.

Diese Frage beantwortet D. gern, denn der Einschenkende wird dadurch zum Musterbeispiel einer Körperinszenierung, bei der es nicht mehr um ikonographische Plausibilität geht als vielmehr um die Wahrnehmung des nackten Körpers (252). Damit gibt sich D. in diesem Falle aber nicht zufrieden. Nachdem die Hauptbedeutung ihre Verbindlichkeit verloren hat, ist Platz für andere, die der KI abgelesen bzw. aufgelegt werden können. D. macht von dieser, die Phantasie beflügelnden, Lizenz freigiebig Gebrauch und vertritt die “formale und semantische Gleichsetzung des Satyrn mit Ganymed” (256): (die Statue) “bringt den schönen Jüngling mit der Gestalt des Satyrn in Übereinstimmung”. Aber noch mehr: Als Ganymed war der Einschenkende geeignet, das rituelle Trinkgelage zu evozieren und die Dialektik des Symposions zwischen Ritual und Orgie widerzuspiegeln. Allerdings nicht als aktiver Teilnehmer des Gelages, sondern als Diener vertritt er so in besonderer Weise das Prinzip der Mässigung, wobei er ein verfeinertes Trinkgefäss benutzt: “Die ohnehin verblüffende Bildaussage über die Wandlung des Satyrs in ein zivilisiertes Wesen wird dadurch noch stärker zugespitzt”. Allerdings.

Man erinnert sich an D.s Ankündigung (160), Nacktheit nicht wie eine Bildchiffre zu lesen, die den dargestellten Figuren spezielle Qualitäten oder Bedeutungen zuschreibt. “Vielmehr verstehe ich Nacktheit als Bestandteil visueller Inszenierungen, die auf den Körper selbst verweisen und ihn durch Emphatisierung bedeutsam oder exemplarisch erscheinen lassen”. Angekommen ist er bei einer mythologischen Absurdität.

Auf einem ähnlichen Niveau liegt die Deutung des Angelehnten Satyrn. Durch das schräg über die Brust drapierte Pantherfell wird der Blick des Betrachters nach unten auf den Bereich der Genitalien gelenkt (“Geometrie der Entblössung”. “Ausschnitthaftes Präsentieren erogener Zonen”). “Verkappte sexuelle Signale” beweisen, dass die Figur “als Objekt erotischer Begierde” inszeniert wird. In seiner gewöhnlichen Diktion liest sich das bei D. so: “Die Nacktheit des Angelehnten Satyrs ist nicht lediglich eine formale und ikonographische Begebenheit, sondern erscheint als besonderes Phänomen und als optisches Ereignis – hervorgerufen durch raffinierte Entblössung …” (277).

Trotz solcher erstaunlichen Äusserungen verkennt Rez. nicht die sympathischen Züge in diesem Erstling des Verfassers, der die anspruchsvolle Aufgabe mit grossem Schwung angegangen ist. Mit mehr Kritik und vor allem Selbstkritik hätte er durchaus etwas Substantielles leisten können.

Notes

1. N. Himmelmann, 1990, Ideale Nacktheit in der griechischen Kunst (1990) = 26. Ergänzungsheft zum Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 56. N. Himmelmann, 2000, Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 115, 2000, 304.

2. T. Hölscher, 1993, Gnomon 65, 1993, 526 f.

3. E. Fischer-Lichte-A. Fleig, 2000, Körper-Inszenierungen. K. Gernig, Nacktheit. Ästhetische Inszenierungen im Kulturvergleich (2002).

4. Befremdlich die häufigen Tautologien: 173. 178. 181. 296.

5. Chr. H. Hallett, 2005, The Roman Nude. Heroic Portrait Statuary 200 BC-AD 300.